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Gregor Fraberger: Die Seele als Kern des Menschen
31.08.2013 | 18:09 | Von Karin Schuh (Die Presse)
Der Psychologe und vierfache Vater Georg Fraberger ist ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen. In seinem neuen Buch "Ohne Leib. Mit Seele" geht er Letzterer nach.
In Ihrem Buch wollen Sie die Seele wissenschaftlich erforschen. Was ist die Seele?
Gregor Fraberger: Was die Seele genau ist, weiß ich nicht, aber ich schlage ein Modell für die Wissenschaft vor, indem ich das Modell von Freud verändere. Im Moment können wir in der Psychologie unendlich viel diagnostizieren, wir haben viele Tests, führen Gespräche. Aber ich glaube, das, was den Menschen wirklich ausmacht, sein Potenzial zu erfassen, das tun wir noch nicht.
Aber was ist die Seele?
Die Seele ist das, was einen Menschen ausmacht und das, was jenseits des Körpers und des Verstandes existiert. Körper und Verstand sind nur die Träger der Seele. Wir alle sind einmal jung und attraktiv, und solange man jung ist, funktioniert auch der Verstand gut, aber irgendwann verschwindet das. Der Mensch bleibt aber im Kern und im Wesen derselbe und sehr liebenswert. Die Seele ist der Kern des Menschen.
Wo sind die Gefühle angesiedelt?
Die Gefühle orientieren sich an den Werten. Wir fühlen uns wohl, wenn wir erkannt und bestätigt sind, aber Gefühle können auch in das Böse hinübergehen. Sie sind nicht so frei wie der Verstand oder die Seele. Sie beeinflussen den Verstand, werden aber von Werten beeinflusst. Wenn ich zum Beispiel etwas möchte, das gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, verbiete ich mir das.
Wie erkennt man seelische Bedürfnisse?
Das ist nicht so leicht. Ich erkläre es anhand eines Künstlers, der malt. Ein Bankmanager würde sagen: „Arbeite etwas, dann verdienst du Geld.“ Aber der Künstler sagt: „Nein, ich muss das Bild malen, auch wenn es keiner kauft.“ Damit geht er einem seelischen Bedürfnis nach, das von der Gesellschaft noch nicht hoch gewertet wird. Der Verstand kann helfen oder die seelischen Bedürfnisse unterdrücken, indem man auf den Banker hört. Dann hat man mit 40 ein Burn-out und weiß nicht warum.
Man sollte also mehr auf sich hören?
Ja, nur darum geht es mir – das, was ich sage, ist ja der Welt nicht neu. Es ist etwas, das aufgrund der heute als wichtig geltenden Werte in Vergessenheit gerät. Da jeder glaubt, er braucht ein Haus, ein Auto, viel Geld. Es ist toll, sich das zu erfüllen, aber das genügt leider nicht. Worauf es ankommt, liegt jenseits der materiellen Sachen.
Sind wir zu leistungsorientiert?
Leistung ist toll. Aber der Wert hängt nicht von der Leistung ab, er ist auch dann noch vorhanden, wenn man die Leistung nicht mehr erbringen kann.
Soll man die Werte nicht auch hinterfragen?
Genau. Heute gilt es als wertvoll, wenn man den ganzen Tag arbeitet und dann nach Hause kommt, um gemeinsam eine Fernsehsendung zu sehen. Ich glaube nicht, dass das den seelischen Bedürfnissen entspricht. Das genügt der Seele nicht, auf Dauer zumindest.
Warum wollen Sie die Seele messen?
Ein Beispiel: Ich sehe in meiner Praxis immer wieder Leute, die alles haben, sich aber wertlos fühlen und sagen: „Ich kann nichts mehr machen.“ Wenn ich ihnen einen psychologischen Test vorlege, dann schneiden sie schlecht ab, es ist klar, dass sie schwer krank sind. Was ich aber schon sehe, und das kann ich in kein Gutachten schreiben, ist, dass sie unter diesen Bedingungen nichts können. Würden sie die Liebe ihres Lebens finden oder einen netten Chef haben, wären sie stark. Dieses Potenzial zu erfassen, das wäre nicht schlecht.
Und das passiert jetzt nicht?
Wir lernen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Verhalten vorherzusagen, aber es gibt kein Warum. Es kommen Leute zu mir, die ein geregeltes Leben ohne Inhalt führen, bei denen sich zeigt, dass man ohne Inhalt keine Energien haben kann und nicht weiß, wofür man leben und arbeiten soll. Ich kann diesen Menschen nicht sagen: „Schauen Sie, so würde jeder krank werden.“ Das wäre eine Riesengemeinheit, daher brauchen wir etwas, das den Kern des Menschen erfasst.
Zu Ihnen: Wissen Sie, warum Sie ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen sind?
Nein, es gibt keine medikamentöse Ursache. Contergan war damals schon verboten. Mein großes Glück war, dass zu Hause und in dem Contergan-Zentrum in Heidelberg, in dem ich behandelt wurde, meine Behinderung als normal erlebt wurde – im Gegensatz zum Rest der Welt. Irgendwie ist es mir gelungen, diese Normalität in mein privates Umfeld mitzunehmen.
Ihre Eltern waren 68er, und Sie sind harmonisch mit Ihren Brüdern aufgewachsen.
Genau, meine Eltern haben mich 1973 bekommen. Es war ein Glück, weil damals der Wertewandel stattfand. Da war alles gut.
Welche Reaktionen gab es außerhalb?
Ich war mit 14 mit meinem Bruder beim Friseur. Der hat ihn gefragt: „Kriegt er die Haare gewaschen?“ Wir mussten lachen, und mein Bruder hat gesagt: „Er kann selbst reden“, und ich habe geantwortet: „Ja, bitte waschen.“ Danach hat er wieder gefragt: „Kriegt er die Haare geschnitten?“ Das war der Punkt, an dem ich mir gedacht habe, die sehen mich anders, als ich bin. Später wurden meine Brüder gesiezt und ich geduzt.
Was ist das Schwierigste für Sie an einem Leben ohne Beine und Arme?
Stufen zu überwinden. Und dass man Menschen findet, die einem etwas zutrauen. Ich hatte das Glück, dass ich ein paar gefunden habe. Nicht nur in meiner Familie, sondern auch im AKH.
Als Kind hatten Sie einen Metallhaken als Handersatz.
Ja, mit dem Hook bin ich aufgewachsen. Mein letztes Erlebnis damit hatte ich mit 14. Ich war auf dem Stephansplatz und plötzlich blieb der Hook beim Mantel einer Frau hängen. Sie hat geschrien, und geglaubt, ich halte sie fest. Mich hat es fast aus dem Rollstuhl gerissen, sie ist weggelaufen. Dann habe ich gedacht, das war das letzte Mal. Der ist sozial abschreckend, obwohl er funktionell super ist. Aber da kann man niemandem die Hand geben.
Erst dann kam die Handprothese.
Ja, mit 15. Am ersten Tag war ich mit einem Mädchen Eis essen. Ich hatte in der anderen Hand eine Manschette, mit der ich den Löffel einspannte. Die Hand lag also irgendwo. Ich aß mein Eis, und plötzlich sah ich, dass ihre Hand auf meiner lag. Ich dachte, was ist denn da los? Da fiel mir ein, die Leute geben sich ja die Hand, gehen Hand in Hand. Das kannte ich vorher nicht.