ULM
Contergan: Dramatische Spätfolgen
Die Situation der Contergan-Geschädigten ist verheerend.
Ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich mit zunehmendem Alter.
Gleichzeitig müssen sie um ihre medizinische Versorgung regelrecht kämpfen.
Autor: DANA HOFFMANN | 17.01.2013
Es gab Zeiten, da konnte sich Margit Hudelmaier noch selber die Haare waschen – mit den Füßen. Heute übernimmt das ihr Mann. Er zieht sie auch an, hilft ihr beim Duschen und auf der Toilette. „Unser Leben orientiert sich überwiegend an mir“, sagt Hudelmaier. Auch ihr 18-jähriger Sohn muss mit anpacken. Hudelmaiers Hände sitzen dort, wo bei anderen der Oberarm beginnt. Sie ist eine von bundesweit etwa 2400 Contergan-Geschädigten. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel hatte vor 50 Jahren den größten Medikamentenskandal in der Geschichte der Bundesrepublik ausgelöst und tausende ungeborene Kinder massiv geschädigt. Viele kamen ohne Arme auf die Welt. Manche auch ohne Beine. Oder mit Gesichtslähmungen. Oder mit Hörschäden. Etliche überlebten das erste Jahr nicht oder starben schon im Mutterleib.
„Meine Eltern haben mich immer auf Selbstständigkeit getrimmt“, sagt Hudelmaier, die Vorsitzende des Bundesverbands Contergangeschädigter ist. „Ich habe gelernt, das, was nicht da war, mit dem zu kompensieren, was ich hatte.“ Dem harten Training für beweglichere Beine zollt sie jetzt, mit Anfang 50, Tribut: Die Kniegelenke sind kaputt, die Bänder überlastet, der Rücken schmerzt. Wie lange sie ihre Arbeit beim Landratsamt Alb-Donau noch ausüben kann, weiß sie nicht – sie lebt im Körper einer 80-Jährigen.
Wie gravierend die Spätschäden der Contergan-Affäre sind, zeigt eine Studie der Uni Heidelberg, die kommende Woche veröffentlicht wird. Die Betroffenen – alle um die 50 Jahre alt – leiden demnach unter altersuntypischen Schäden. Die Folgeschäden steigern den ohnehin hohen Hilfsbedarf noch einmal – mit wirtschaftlichen und psychischen Folgen für die Opfer.
Die Ergebnisse machen deutlich, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen den Betroffenen drohen: Seit Mitte der 80er Jahre arbeiten immer mehr Contergangeschädigte aus gesundheitlichen Gründen nur noch halbtags. Viele mussten sogar ganz aufhören und hohe Rentenabschläge in Kauf nehmen. Dabei zahlt jeder Dritte Physiotherapie oder Hilfsmittel aus eigener Tasche. Weder Ärzte noch Versicherungen sind laut Studie hinreichend auf die Contergan-Fälle eingestellt: Zahnimplantate müssen die Betroffenen weitestgehend selbst zahlen. Dabei ersetzt das Gebiss bei vielen die Hände. Die Betroffenen öffnen beispielsweise Flaschen, tragen Gegenstände oder bedienen Hebel mit ihren Zähnen. Viele Vierfachgeschädigte – ohne Arme und Beine – können sich robbenartig fortbewegen, leiden aber deshalb häufig unter Hüftproblemen. Operationen sind kompliziert, weil die Knochen und Gefäße anders gelagert sind. Hinterher wieder mobil zu werden, ist fast unmöglich – Womit sollte sich ein Armloser auf die Krücken stützen?
Jeder Betroffene erhält maximal 1152 Euro staatliche Conterganrente. In vielen Fällen muss das Gehalt des Partners herhalten, um das Leben zu finanzieren: von einfachen Änderungen am Wintermantel bis zur teuren Massage. Auch diesen Umstand prangert die Studie an. „Das Geld soll eigentlich die mir entgangenen Lebensfreuden ersetzen“, sagt Hudelmaier. „Aber alleine die Haushaltshilfe kostet 750 Euro, da bleibt nicht mehr viel übrig für Freude.“ Die Ulmerin und ihr Mann sind beide berufstätig, finanziell kommen sie über die Runden – noch. Denn in absehbarer Zeit werden ihr Mann und ihr erwachsener Sohn als Stütze wegfallen. Hudelmaiers Mutter, die ihre Tochter lange unterstützt und gepflegt hat, braucht inzwischen selber Hilfe. „Ich bin es gewohnt, von meinen Lieben gepflegt zu werden. Aber später muss das alles organisiert werden. Das fängt beim Toilettengang an: Dann geh ich nicht mehr, wenn ich muss, sondern wenn der Pflegedienst da ist. Dann kostet ein Toilettengang 40 Euro.“
Die Heidelberger machen deutlich, welche Bedarfe Geschädigte haben und nehmen dabei die Bundesregierung in die Pflicht. Sie soll alle anfallenden Kosten übernehmen und eine weitere Erforschung der Spätfolgen sicher stellen. Die Fraktionen selbst hatten die Studie 2008 auf Drängen des Contergan-Verbandes in Auftrag gegeben. Der Bund war offiziell zum Schuldner geworden, als 1970 das Verfahren gegen das Pharmaunternehmen Grünenthal eingestellt und ein Vergleich in Höhe von 110 Millionen Mark ausgehandelt wurde. 1972 nahm die firmeneigene Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ ihre Arbeit auf. Den Betroffenen wurde eine Entschädigung gezahlt und damit das Recht auf juristische Aufarbeitung genommen.
Grünenthal hat vor anderthalb Jahren die Härtefall-Regelung eingeführt. Nach offiziellen Angaben wurden von bislang 160 Anträgen die meisten bewilligt, darunter erste internationale Anliegen. Über die Höhe der Leistungen und das Gesamtbudget wollte ein Sprecher gegenüber der SÜDWEST PRESSE nichts sagen. Auch darüber, wie in diesem Kontext eine „besonders schwere Schädigung“ definiert wird, herrscht Schweigen.
Quelle:
www.swp.de/ulm/nachrichten/wissen/gesund...n;art1185447,1809903