„Wir sind Contergan-Überlebende“ – kaernten.ORF.at
Es sind kleine, unauffällige Tabletten mit schwerwiegender Wirkung. Helga Napetschnig bringt zum Treffen der Selbsthilfe Kärnten einen Fund mit, den sie vor einigen Jahren im Haus ihrer Eltern gemacht hat. Es ist das Medikament, das ihre Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hat: Contergan. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass es negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Babys hatte.
Drei Betroffene sind bereits gestorben
Ursprünglich lebten in Kärnten sechs Betroffene, die sich in der Selbsthilfegruppe regelmäßig austauschten. Nun betreiben die restlichen drei die Selbsthilfegruppe. Die Treffen – für Betroffene aus ganz Österreich – finden in Wien statt. Auch weil es dort einfacher sei, barrierefreie Unterkünfte zu finden, sagt Helga Napetschnig.
Selbsthilfegruppe für Contergan-Betroffene
Das Medikament Contergan gilt als einer der bekanntesten Medizinskandale. Bis Anfang der 1960er Jahre wurde das Medikament gegen Übelkeit und Schlafstörungen während der Schwangerschaft verschrieben und führte zu schweren Missbildungen beim Ungeborenen. In Kärnten gibt es immer noch Betroffene, die eine Selbsthilfegruppe gegründet haben.
Von der Ursache erfuhren die Betroffenen erst spät
Helga Napetschnig wurde ohne Oberschenkel geboren und erlitt eine Sehnervenschädigung am linken Auge. Auch die Nebenhöhlen und Gehörgänge sind betroffen, außerdem hat sie Zysten im Gehirn: „Dass ich durch Contergan geschädigt bin, wusste ich erst mit 42.“ Durch Medienberichte wurde Napetschnig auf die Wienerin Michaela Moik aufmerksam, die ebenfalls an Contergan erkrankt ist. Ihre Arme sind betroffen.
Den Opfern wurde eine geringe Lebenserwartung nachgesagt
Die beiden Frauen sehen sich nicht als Opfer, sagt Moik: „Wir sind Contergange-Überlebende.“ Tatsächlich hat die Regierung berechnet, dass wir 35 Jahre alt werden. Wir leben schon etwas länger. Wir sind die ‚Contis‘ und ich bin derjenige mit den Flügeln.“
Robert Birnbacher ist Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin am LKH Villach und beschäftigt sich intensiv mit dem Contergan-Skandal: „Das Thema Contergan spielt in unserer Ausbildung eine große Rolle, weil es sich um eine der großen Katastrophen handelt, die sich vor Jahrzehnten ereignet haben.“ Die Art und Weise, wie Medikamente und Medizinprodukte zugelassen werden, hat sich seit dem Skandal verändert und ist stärker in den Fokus gerückt.“
Contergan-Betroffene altern schneller
Laut Birnbacher altern Contergan-Betroffene schneller: „95 Prozent von ihnen haben bereits im Alter von 45 Jahren arthritische Veränderungen in den Gelenken, weil sie stärker belastet sind.“ Auch Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Schädigungen des Nerven- und Gefäßsystems treten häufiger auf. Die Betroffenen müssen eine multidisziplinäre Betreuung durch die Medizin erhalten.
In Österreich ist ein Rezept erforderlich
In Deutschland gab es 5.000 Contergangeschädigte. In Österreich war das Medikament verschreibungspflichtig, sodass die Zahl der Betroffenen mit 45 deutlich geringer ist. Weltweit gibt es etwa 10.000 Contergan-Erkrankte.
Michaela Moik und Helga Napetschnig setzen sich mit ihrem Netzwerk für die Rechte von Menschen mit seltenen Erkrankungen und für Barrierefreiheit ein. Unterstützung gibt es von der Selbsthilfe Kärnten.
Einst „zu normal“ für die Medienberichterstattung
Trotz ihrer Behinderung sind beide sehr aktiv und leben das Leben. So sehr, dass ein Journalist keinen Bericht über Moik veröffentlichte und ihr Leben als „zu normal“ bezeichnete. „Damals dachte ich, er sei ein Idiot“, sagt sie. „Das würde ich mir heute nicht mehr gefallen lassen.“ Da die Zahl der Betroffenen in Österreich jedoch vergleichsweise gering sei, sei es schwierig, Experten zu finden, sagen Moik und Napetschnig.
Contergan-Betroffene erhalten zwar finanzielle Unterstützung, doch die Anerkennung war vor allem in Deutschland ein langer und kostspieliger Prozess. Nach Jahren der Bürokratie zog Helga Napetschnig für sich die Grenze: „Man kann nicht ständig in der Opferrolle sein und in Krankenakten wühlen.“ Du darfst nicht vergessen, dein Leben zu leben.“
Rentenzahlung im Jahr 2015 beschlossen
In Österreich hat der Nationalrat 2015 einstimmig beschlossen, den Betroffenen Renten zu zahlen. Auch die 1972 nach dem Prozess gegen den Hersteller Grünenthal gegründete Conterganstiftung mit Sitz in Deutschland hat eine Kommission eingesetzt, die sich mit den Bedürfnissen von Betroffenen im Alter beschäftigt, unter anderem mit dem Thema „Leben im Alter“. „Von den Ergebnissen des Abschlussberichts sollen nicht nur Menschen mit Contergangeschädigungen, sondern grundsätzlich alle Menschen mit Behinderungen im Alter profitieren“, sagt Christoph Umlau, der für die Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung verantwortlich ist.
Schädliche Wirkung von Thalomid zu spät entdeckt
Schuld an den Missbildungen war der Inhaltsstoff Thalidomid. Das Medikament galt nach Tierversuchen als sicher. Die Wirkung wurde erst entdeckt, als es Menschen mit Epilepsie verabreicht wurde. 1960 machte der schottische Arzt Leslie Florence aufgrund von Beschwerden seiner Patienten in einem Brief an den Herausgeber des British Medical Journal erstmals auf die nervenschädigende Wirkung von Thalidomid aufmerksam.
Der Zusammenhang wurde vom Pharmaunternehmen zunächst dementiert
Die Firma Grünenthal bestritt die Zusammenhänge zunächst. Doch als immer mehr Fälle auftraten und der Zusammenhang mit Contergan endlich klar wurde, wurde Contergan vom Markt genommen. 1968 gab es in Deutschland einen Prozess gegen Grünenthal. Das Verfahren wurde eingestellt und die betroffenen Eltern einigten sich.