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BVerfG: Hilfsmittel - Persönlichkeitsrechte und Eilverfahren
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THEMA: BVerfG: Hilfsmittel - Persönlichkeitsrechte und Eilverfahren

BVerfG: Hilfsmittel - Persönlichkeitsrechte und Eilverfahren 11 Mär 2009 21:44 #1643

  • Christian Stürmer
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -

Pressemitteilung Nr. 22/2009 vom 11. März 2009

Beschluss vom 25. Februar 2009 – 1 BvR 120/09 –

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Verweigerung eines
Spezialrollstuhls als des einzigen Fortbewegungsmittels im Haushalt
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Die 48-jährige Beschwerdeführerin hatte Erfolg mit ihrer
Verfassungsbeschwerde gegen sozialgerichtliche Beschlüsse, die es
abgelehnt hatten, ihr einen speziellen Elektrorollstuhl, der für sie
die einzige Möglichkeit darstellt, sich im häuslichen Bereich ohne
fremde Hilfe zu bewegen, im Wege des Eilrechtsschutzes zu bewilligen.
Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die
angegriffenen Beschlüsse des Sozialgerichts und des
Landessozialgerichts auf, die wegen der noch notwendigen Ermittlungen
möglicher Gefahren für die Beschwerdeführerin beim Betrieb des
Rollstuhls eine Bewilligung im Eilrechtsschutz ausgeschlossen und auf
das Hauptsacheverfahren verwiesen hatten. Das Bundesverfassungsgericht
ging von einer Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus,
weil die Sozialgerichte das Beweisangebot der Beschwerdeführerin, ihre
Fähigkeit zur gefahrenfreien Nutzung eines entsprechend ausgerüsteten
Elektrorollstuhls mit einem leihweise zur Verfügung gestellten Fahrzeug
vorzuführen, bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
hätten berücksichtigen müssen. Die Sache wurde zur erneuten
Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin leidet an der Krankheit ALS (amyotrophe
Lateralsklerose) mit nahezu vollständiger Lähmung der Muskulatur,
wodurch sie komplett an den Rollstuhl gefesselt ist, den sie auch nicht
mit eigener Muskelkraft in Bewegung setzen und steuern kann, auch nicht
im häuslichen Umfeld. Im September 2007 beantragte sie bei ihrer
Krankenkasse unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung ihres
behandelnden Arztes die Versorgung mit einem speziell für sie
hergerichteten Elektrorollstuhl samt elektronischer Mundsteuerung. Auf
der Grundlage von Gutachten, die die Fahrtauglichkeit der
Beschwerdeführerin für einen Elektrorollstuhl im Straßenverkehr
verneinten, lehnte die Krankenkasse die begehrte Versorgung ab. Die
Beschwerdeführerin wandte sich hiergegen an das Sozialgericht und
stellte dabei klar, dass es ihr um die Bewegungsfähigkeit im häuslichen
Umfeld gehe. Während der Abwesenheit ihres Ehemannes sei sie im
häuslichen Umfeld an den Platz gebunden, wo sie "abgestellt" werde. Das
Sozialgericht lehnte die beantragte Bewilligung im Wege einstweiligen
Rechtsschutzes ab, weil umfangreiche medizinische Ermittlungen zur
Frage einer etwaigen Selbst- oder Fremdgefährdung bei der Benutzung des
Elektrorollstuhls erforderlich seien - derartige Gefahren müssten
sicher ausgeschlossen sein, bevor die begehrte Versorgung in Betracht
komme. All diese Fragen seien aber nicht im Eilrechtsschutz, sondern im
Hauptsacheverfahren zu prüfen. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das
Landessozialgericht zurückgewiesen. Einem Beweisangebot der
Beschwerdeführerin, anhand eines leihweise überlassenen
Elektrorollstuhls im Rahmen des Eilrechtsschutzes die sachgerechte
Bedienung zu belegen, wurde dabei von den Fachgerichten nicht
nachgegangen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidungen stehen mit dem
Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht in Einklang.

Auch im Verfahren der einstweiligen sozialgerichtlichen Anordnung gilt
der Amtsermittlungsgrundsatz, was die Möglichkeit einer Beweiserhebung
einschließt. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kann dabei jedenfalls bei
drohenden schweren und unzumutbaren Nachteilen auch im Eilrechtsschutz
durchaus geboten sein. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der
Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden, wobei auch die grundrechtlichen Belange,
insbesondere der Grundwert der Menschenwürde, zu berücksichtigen sind.
Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der
Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf
das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend
gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden.

Die Fachgerichte haben hier nicht ausreichend berücksichtigt, dass bei
einem unter amyotropher Lateralsklerose leidenden Menschen mit völligem
Verlust der eigenen Mobilität der Zwang zum Verharren in einer
Situation der Hilflosigkeit eine schwerwiegende Einschränkung
darstellt, die seine Persönlichkeitsrechte berührt. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip ein Anspruch auf die Mindestvoraussetzungen für ein
menschenwürdiges Dasein folgt. Dazu gehört auch das Interesse der
Beschwerdeführerin, im Rahmen ihrer krankheitsbedingt sehr
eingeschränkten Möglichkeiten im Wohnumfeld einen Rest an Mobilität zu
erhalten.

Vor diesem Hintergrund durften die Fachgerichte hier auch im Wege des
Eilrechtsschutzes das Angebot der Beschwerdeführerin, ihre
Fahrtauglichkeit an einem leihweise überlassenen Rollstuhl unter Beweis
zu stellen, nicht unter Hinweis auf lediglich denkbare Gefahrenlagen
beiseite schieben. Damit ließen sie das bereits im Eilrechtsschutz
aktuelle und rechtlich schutzwürdige Interesse der Beschwerdeführerin,
sich einen Rest an Mobilität zu erhalten, wegen einer von ihnen selbst
nicht als nachgewiesen, sondern lediglich für möglich gehaltenen Gefahr
beim Betrieb des Elektrorollstuhls zurücktreten
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