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22.09.2019, 07:31 Uhr
Fehlbildungen bei Neugeborenen - Ursache unbekannt
Drei Neugeborene mit fehlgebildeten Händen innerhalb weniger Wochen in einer Gelsenkirchener Klinik: Ist diese Häufung Zufall oder Hinweis auf ein größeres Problem? Gesicherte Daten dazu gibt es kaum.
In den 1960er Jahren erschütterte ein Medizinskandal die Bundesrepublik: Contergan. Neugeborene mit Fehlbildungen kamen zur Welt, mit deutlich verkürzten Armen oder Beinen. Eine Geschichte, die sich ins kollektive Bewusstsein der Deutschen eingebrannt hat. In Frankreich sorgten vor einigen Monaten Fehlbildungen bei Babys für Beunruhigung: Offiziell wurden 20 Fälle gezählt, die meisten im äußersten Westen des Landes. Die Ursache: unklar.
Nun kamen in einem Krankenhaus in Gelsenkirchen innerhalb von nur zwei Monaten drei Babys zur Welt, die jeweils nur eine Hand haben. Auch im weiteren Umkreis wurden zwei Kinder geboren mit nur einer Hand. Ist das ein statistischer Zufall? Oder ein Grund, Alarm zu schlagen? So richtig beantworten kann das offensichtlich niemand: Es gibt kein zentrales Melderegister, keine deutschlandweite Statistik.
Im Sankt Marien-Hospital in Gelsenkirchen kann man sich die Fehlbildungen nicht erklären. Besonders auffällig ist der knappe Zeitraum, in dem sie aufgetreten sind. Bei allen drei Babys ist jeweils eine Hand nicht vollständig ausgebildet. Als die Kölner Hebamme Sonja Liggett-Igelmund zufällig davon erfährt, hört sie sich weiter im Kollegenkreis um, bald hat sie Kontakt zu über 30 betroffenen Müttern und Vätern. "Bei mir melden sich Eltern aus ganz Deutschland", erklärt die Hebamme, "was mich sehr schockiert. Man kann das nicht lokal auf eine Stadt begrenzen. Vielen Eltern hat man gesagt, das wäre eine Laune der Natur."
Fehlbildungen bei Babys: Zufall oder nicht?
Daran aber glaubt Liggett-Igelmund nicht. Sie wendet sich an die Medien – und offenbart damit ein grundlegendes Problem: Man weiß nicht einmal, ob die momentanen Fälle häufig sind oder normal, gewissermaßen tatsächlich eine Laune der Natur. Es gibt keine umfassende Statistik dazu. Lediglich für Sachsen-Anhalt existieren entsprechende Erhebungen, also auf regionaler Ebene. Ebenso im sogenannten "Mainzer Modell". Hier wurden von 1990 bis 2016 alle Geburten in der Region erfasst, auch Fehlbildungen.
Wären die Babys, die jetzt in Gelsenkirchen zur Welt gekommen sind, in Mainz geboren, könnten die Forscher viel genauer antworten auf die Frage "Zufall oder nicht", erklärt Studienleiterin Annette Queißer-Wahrendorf: "Wir haben die ganzen Faktoren der Schwangerschaft dokumentiert und wir würden dann natürlich gucken: Wo haben die Mütter gewohnt? Haben die alle zum Beispiel in einem speziellen Vorort von Mainz gewohnt? Haben die alle ein spezielles Medikament eingenommen? Wir könnten sozusagen Fallkontrollvergleiche machen. Das heißt, im Fall von Kindern, die eine Fehlbildung haben, könnten wir Schwangerschaftsanamnese und Risikofaktoren vergleichen mit den Fällen von Kindern, die keine Fehlbildung haben."
Nur die Häufigkeit von Fehlbildungen wird registriert, nicht die Art
Ganz anders, die Situation auf Bundesebene: Ein zentrales Register für Fehlbildungen gibt es nicht. Zwar existiert die sogenannte Perinatalstatistik vom Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Doch die listet nur die Häufigkeit von Fehlbildungen auf, ihre Art erfasst sie nicht. Dabei ist das aber zentral, um Fälle wie einst bei Contergan oder 2018 in Frankreich überhaupt erst zu erkennen.
Deshalb ist auch Ekkehardt Jenetzky überzeugt, dass es ein zentrales Register braucht. Jenetzky ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Mainz und befasst sich ebenfalls mit Fehlbildungen bei Neugeborenen. Er hält ein zentrales Register allein schon aus Sicht der Eltern für sinnvoll. "Bisher ist es leider nicht Standard, dass Eltern eines betroffenen Kindes über existierende Selbsthilfegruppen aufgeklärt werden", moniert der Arzt. "Es ist oft eine längere Odyssee, bis sie feststellen: Ich bin gar nicht allein auf der Welt. Und ich denke, wenn es so ein Register gäbe, gäbe es die Möglichkeit einer früheren Vernetzung."
Detaillierte Erfassung von Fehlbildungen notwendig
Und die ist aus Sicht des Experten auch auf lange Sicht wichtig, denn die Nachhaltigkeit von irgendwelchen Registern wird im Wesentlichen durch die Betroffenenverbände erfahren. "Ein Forscher hat eventuell nur für kurze Zeit Interesse an den Daten. Wenn er seine Forschungsfrage oder seine wissenschaftliche Laufbahn erreicht hat, dann erlischt oft das Interesse an diesen speziellen Fragestellungen. Und wenn jemand betroffen ist, dann hat er lebenslang eine Fragestellung. Und manchmal betrifft die Frage ja nicht nur, woher kommt die Fehlbildung, sondern auch: Wie kann ich mit der Fehlbildung am besten umgehen", so Jenetzky.
Die detaillierte Erfassung wäre also nur ein kleiner erster Schritt, um Eltern über den Grund der Fehlbildungen aufzuklären. Denn fest steht: Solange in Deutschland nicht besser erfasst wird, wie oft welche Fehlbildung bei Neugeborenen überhaupt auftritt, in welchen Regionen und in welchen Zeiträumen – so lange wird sich die Frage nach dem Warum erst gar nicht beantworten lassen.