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28. Jan. 2013, 20:25
Home Politik Deutschland Der späte Schrecken von Contergan
20:10Altersarmut
Der späte Schrecken von Contergan
Weil Contergan-Geschädigte mit zunehmendem Alter immer mehr Hilfe benötigen, fordern sie ein rasches Handeln der Politik. Unterstützung erhalten sie vom Behindertenbeauftragten der Regierung. Von Matthias Kamann
Foto: dpa
Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan steht – wie hier – nur noch im Museum. Wissenschaftler sehen bei der Versorgung von Opfern dringenden Handlungsbedarf
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Contergan-Skandal
Die Körper seien "vorzeitig gealtert", sagte Margit Hudelmaier. Vielen Betroffenen gehe es "deutlich schlechter" als noch vor einigen Jahren, berichtete die Vorsitzende des Bundesverbandes Contergan-Geschädigter. Denn jetzt, im höheren Alter – die von Contergan Geschädigten sind heute im Durchschnitt 53 Jahre alt –, müssten sie "einen hohen Preis zahlen für jahrzehntelange Fehlbelastungen".
Für diesen Warnruf konnte die Selbsthilfeorganisation einen mehr als 300 Seiten umfassenden Beleg vorweisen: Unlängst wurde ein Forschungsbericht veröffentlicht, in dem Wissenschaftler der Universität Heidelberg im Auftrag des Bundestags darstellen, wie gravierend die Spätfolgen und wie groß der zusätzliche Hilfebedarf bei Contergan-Geschädigten sind.
Es beginnt mit medizinischen Befunden: Weil die Extremitäten verstümmelt sind, müssen unentwegt Ausweichbewegungen ausgeführt werden, etwa mit der Wirbelsäule, um schreiben zu können. Das schädigt Skelett und Muskulatur auf die Dauer schwer – auch das Gebiss als Hände-Ersatz –, sodass viele nun an Knochen- und Gelenkkrankheiten leiden.
Weiterhin fallen bei den Betroffenen jetzt viele wichtige Helfer aus: die Eltern, die hochbetagt oder tot sind, sowie die Kinder, die erwachsen sind und aus dem Haus gehen. Zudem ist die materielle Absicherung gefährdet: Weil viele nur in Teilzeit arbeiten konnten oder in Frührente gehen mussten und weil helfende Ehepartner bei der Berufstätigkeit zurücksteckten, droht vielen unverschuldete Altersarmut.
Zwar gibt es die Contergan-Rente, doch laut Forschungsbericht können 35 Prozent der Betroffenen trotzdem "die finanzielle Unabhängigkeit nicht aufrechterhalten".
"Unterversorgung der Contergan-Geschädigten"
Für den enormen Geldbedarf gab Hudelmaier Beispiele: Ein T-Shirt könne man zwar für wenig Geld kaufen, müsse es aber vom Schneider für viel Geld an den von Contergan verstümmelten Körper anpassen lassen.
Eine billige Waschmaschine könnten Betroffene nicht öffnen, "das geht nur bei teuren Modellen". Und bei einem Auto, das für die notwendigen Umbauten überhaupt geeignet ist, komme man rasch auf 50.000 Euro. Daher belegt der Bericht laut Hudelmaier in jeder Hinsicht "die Unterversorgung der Contergan-Geschädigten".
Der Verband fordert, dass der Bundestag schleunigst das Gesetz über die Contergan-Stiftung ändert, aus der die Hilfen finanziert werden, und die Empfehlungen der Wissenschaftler umsetzt. Die fordern in ihrem Bericht unter anderem: "Die Contergan-Rente sollte deutlich erhöht werden" und "die Angehörigen sollten nicht mehr zur Assistenz hinzugezogen werden".
Weiterhin empfehlen die Autoren, die Auto-Finanzierung zu verbessern und mehr Geld für den Umbau der Wohnungen zu gewähren. Medizinischer Zusatzbedarf – Schmerztherapien oder Zahnimplantate – solle als Normalversorgung für Contergan-Geschädigte angeboten werden.
Leben "immer mehr eingeschränkt"
"Die Abgeordneten", so Hudelmaier mit Blick auf die Empfehlungen, "haben jetzt das Handwerkszeug" und sollten so bald wie möglich das Gesetz ändern. "Es wäre fatal, wenn das nicht mehr in dieser Legislaturperiode geschafft würde."
Foto: picture alliance / Jan Haas
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung: Hubert Hüppe (CDU)
Schon in der nächsten Woche müsse der Bundestag an die Arbeit gehen, wenn eine Sachverständigenanhörung absolviert ist, die bereits am Freitag dieser Woche im Familienausschuss anberaumt ist.
Unterstützung kommt vom Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU): "Die Contergangeschädigten können nicht länger auf zusätzliche Hilfen warten", sagte Hüppe der "Welt". Das Leben der Betroffenen werde "durch die Folgen von Contergan immer mehr eingeschränkt, je älter die Betroffenen werden".
Noch in dieser Legislaturperiode?
Daher fordert Hüppe "dringend, dass der Bundestag unmittelbar nach der Anhörung die nötigen Schritte unternimmt, um zusätzliche Unterstützung auf den Weg zu bringen". Dies müsse "auf jeden Fall noch in dieser Legislaturperiode beschlossen werden".
Erste Leistungen müssten 2013 erfolgen. "Zur Vermeidung zeitraubender Bürokratie wäre es am besten", so Hüppe, "wenn zunächst die Contergan-Renten erhöht werden, damit die Menschen schnell mehr Mittel zur Verfügung haben, um sich die nötigsten Hilfen erst einmal selbst besorgen zu können."
Dass der Haushalt 2013 schon beschlossen ist, dürfe kein Hinderungsgrund sein, "den Contergan-Geschädigten noch in diesem Jahr mehr Unterstützung zukommen zu lassen".