Quelle:
http://www.welt.de/wissenschaft/medizin ... gkeit.html
Contergan-Geschädigte kämpfen weiter für Gerechtigkeit
Von Ulrike Ruopp 26. August 2009, 14:44 Uhr
Mühsam steigt Christian Stürmer mit Krücken die Treppe in der Doppelhaushälfte hinauf. Jede Stufe ist eine Qual für den 48 Jahre alten Contergangeschädigten. Weil seine Mutter in der Schwangerschaft das übelkeitshemmende Schlafmittel einnahm, kam er mit schweren Behinderungen an den Beinen auf die Welt.
1961 nahm die Herstellerfirma Grünenthal das Medikament Contergan wieder vom Markt. Nach vier Jahren und weltweit rund 10000 missgebildeten Kindern, 5000 allein in Deutschland. Der Wirkstoff Thalidomid hatte den Wachstumsprozess der Ungeborenen gestört.
Im ersten Stock befindet sich das Arbeitszimmer. Der enge Raum ist vollgepackt mit juristischen Fachbüchern und Ordnern. Einer davon enthält die Verfassungsbeschwerde, die Stürmer Ende Juni mit zehn weiteren Betroffenen eingereicht hat. „Das Gefühl, massiv ungerecht behandelt zu werden, war immer da“, sagt er. Bis vor neun Monaten habe er all seine Energie benötigt, um den Alltag zu bewältigen und das Jurastudium abzuschließen.
Erst als die Reform des Conterganstiftungsgesetzes eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ermöglichte, fand er die Kraft, den Verein Contergan-Netzwerk zu gründen und die Klage auszuarbeiten. Was er will, ist Gleichberechtigung, eine politische Diskussion auf Augenhöhe und die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben – für sich und die anderen 2650 Contergan-Geschädigten, die in Deutschland noch leben.
Ein funktionstüchtiger Rollstuhl, eine behindertengerechte Küche oder ein umgebautes Kraftfahrzeug seien zum Beispiel nötig für diese Eigenständigkeit. „Ohne Auto ist schon der Gang zum Briefkasten ein Ding der Unmöglichkeit.“ Hätte der Staat nicht alle Ansprüche gegen Grünenthal per Gesetz ausgeschlossen, hätten die Geschädigten ein Recht auf Schmerzensgeld, auf Kuren und Umbauten. Aber so bekommen sie je nach Behinderung eine monatliche Rente nur zwischen 252 und1116 Euro aus dem Fonds der Conterganstiftung für behinderte Menschen. „Brotkrumen“ seien das, findet der Vater einer Tochter.
Entschädigungszahlungen reichen nicht aus
Auch die im Mai eingeführten Zusatzzahlungen – 100 Millionen Euro über 25 Jahre verteilt – reichten nicht. Monatlich bekomme er als mittelmäßig Geschädigter umgerechnet nur 191 Euro. „Wir leben auf Sozialhilfeniveau. Bei der Regelung der Versorgungspflicht hat wohl niemand gedacht, dass wir so alt werden“, stellt der gebürtige Düsseldorfer nüchtern fest.
Reguläre Rentenansprüche hätten die Contergan-Geschädigten kaum. „In den 60er Jahren wurden Behinderte an den Rand der Gesellschaft gedrängt und lange nicht eingeschult.“ Später als andere seien sie also ins Berufsleben eingestiegen, früher müssten sie wieder austreten. Die Spätfolgen von einseitiger Belastung und geschädigten Organen machten sich zunehmend bemerkbar.
Als die Schmerzen immer schlimmer wurden, musste auch Stürmer seine Arbeit aufgeben. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte er einen Kaffeeherstellungsbetrieb geführt. „Wir brauchen sofort Hilfe“, betont er. Die stellt er sich so vor: Entweder bekommen Contergangeschädigte die Leistungen, die sie von Grünenthal hätten einklagen können, oder solche, die das Bundesversorgungsgesetz ähnlich Geschädigten gewährt. „Kriegsversehrte, Impfgeschädigte oder Opfer von Gewalttaten sind viel bessergestellt als wir.“
Einen Termin für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Klage gibt es noch nicht. „Das lässt sich nicht absehen“, sagte eine Sprecherin in Karlsruhe. Sollte das Bundesverfassungsgericht seine Forderung ablehnen, will Christian Stürmer den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. „Das ist unsere letzte Chance auf Gerechtigkeit.“
LG
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